Mittelalterliche Untersuchungen in der Neurowissenschaft (1050–1450): Ontologie-basierte Schlüsselwortsuche in Manuskript-Scans
- Hosting-Organisationen
- Uni Innsbruck - Institut für Amerikastudien und Uni Bozen - Fakultät für Informatik
- Verantwortliche Personen
- Mario Klarer und Diego Calvanese
- Beginn
- Ende
„Warum können sich Männer nicht daran erinnern, was sie getan haben, als sie betrunken waren?“ oder „Warum verlieren Männer im Alter häufiger als Frauen ihre Haare?“ Diese Fragen richteten sich an Albert von Sachsen, den Gründungsrektor der Universität Wien und späteren Bischof von Halberstadt, während eines quodlibet, einer öffentlichen universitären Frage-und-Antwort-Sitzung, in den 1360er Jahren. Bemerkenswert ist, dass der Philosoph in seinen Antworten medizinisches Wissen über die Anatomie und Physiologie des menschlichen Gehirns verwendete. Die Entdeckung von Alberts bisher unbekannten quodlibeta ist nur die Spitze des Eisbergs, denn während der ersten Forschungsarbeiten für dieses Projekt wurden über hundert neue Quellen für medizinische hirnanatomische Diskurse entdeckt. Diese neu aufgefundenen Texte zeigen, dass sich die mittelalterliche Hirnanatomie nicht allein auf medizinische Diskurse beschränkte, sondern im Gegenteil Schlüsselaspekte aller wichtigen Bereiche des mittelalterlichen Wissens prägte, einschließlich der Seelentheorien in der Theologie, der Erkenntnistheorie in der Philosophie und der Rolle von Imagination und Gedächtnis in der Literatur. Obwohl die großen klassischen und mittelalterlichen anatomischen Texte von Autoritäten über das Gehirn und seine Neurologie durch Medizinhistoriker*innen relativ gut dokumentiert sind, hat das Erbe medizinischer Gehirnkonzepte in der mittelalterlichen Philosophie, Theologie und Literatur – insbesondere in fächerübergreifenden Quellen wie quodlibeta, quaestiones disputatae und commentarii – bisher wenig oder gar keine Beachtung gefunden. Bestimmte Kapitel der Geschichte der mittelalterlichen Wissenschaften müssen auf der Grundlage dieser Funde sowie der zahlreichen zukünftigen Entdeckungen, die im Rahmen des MENS-Projekts erwartet werden, erheblichen Revisionen unterzogen werden.
Die bisher unbekannten hirnanatomischen Bezüge Alberts, die bisher keine wissenschaftliche Erwähnung fanden und die in den Archiven der Bibliothek der Universität Innsbruck schlummerten, sind mit einer aufwändigen manuellen Handschriftensichtung verbunden. Die Nutzung vorhandener IT-Techniken zur vertieften Suche von Manuskript-Scans nach bestimmten Inhalten – in diesem Fall nach hirnanatomischen Bezügen – liefert noch keine ausreichenden Ergebnisse. Gegenwärtig mangelt es der Technologie zur Stichwortsuche bei nicht-transkribierten Manuskript-Scans an dem notwendigen knowledge graph oder an einer größeren Ontologie, die ein*e (Geistes-)Wissenschaftler*in bei solchen Untersuchungen intuitiv anwendet. Das Ziel, neurologische Inhalte aus mittelalterlichen Manuskripten zu extrahieren, ähnelt auch den IT-Methodiken des MENS-Projekts, die sich auf modernste neuronale Netze und IT-Ontologien stützen, die der Funktionsweise des menschlichen Geistes nachempfunden sind.
Ziel des MENS-Projekts ist es daher, eine paradigmatische Fallstudie für die Zusammenstellung und anschließende Überprüfung von Manuskript-Scans großer Datenmengen unter Verwendung neuronaler Netze und formaler Ontologien zu erstellen. Wäre die vorgeschlagene Technologie verfügbar gewesen, hätten Hunderte ähnlicher Funde durch automatische Sichtung anderer Manuskripte innerhalb der gleichen Zeitspanne, die allein für die „manuelle“ Durcharbeitung von Alberts Manuskript erforderlich ist, zutage gefördert werden können.